Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst auch in Deutschland möglich?

Im Gespräch mit der stellv. Direktorin des ifw, Jessica Hamed, teilen ifw-Beirätin Prof. Dr. Ninon Colneric, die von 2000 bis 2006 die erste deutsche Richterin am Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) war, und Seyran Ateş ihre Ansichten zu den Folgen der EuGH-Entscheidung zum Kopftuchverbot durch öffentliche Arbeitgeber für Deutschland (Urteil vom 28.11.2023 – C-148/22) mit.

In seiner Grundsatzentscheidung vom 27.01.2015 – 1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10 – hat das Bundesverfassungsgericht den Rechtsstandpunkt eingenommen, dass eine abstrakte Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität nicht für die Verhängung eines Kopftuchverbots ausreiche.

Auf dieser Rechtsprechung, erläutert Colneric, baue eine Frage des Arbeitsgerichts Hamburg in dem Vorabentscheidungsverfahren C-804/18 – X ./. WABE - auf. Sie lautete: "Stehen die Richtlinie 2000/78 und/oder das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 der Charta angesichts Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/78 ["Die Mitgliedstaaten könne Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind."] einer nationalen Regelung entgegen, nach der zum Schutz des Grundrechts der Religionsfreiheit ein Verbot religiöser Bekleidung nicht schon aufgrund einer abstrakten Eignung zur Gefährdung der Neutralität des Arbeitgebers, sondern nur aufgrund einer hinreichend konkreten Gefahr, insbesondere eines konkret drohenden wirtschaftlichen Nachteils für den Arbeitgeber oder einen betroffenen Dritten gerechtfertigt werden kann."

Auf dasselbe Problem zielte eine Frage in dem vom Bundesarbeitsgericht eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren C-341/19 ab, das mit dem Verfahren C-804/18 verbunden wurde. Der EuGH antwortete in seinem Urteil vom 15.07.2021: "Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 [betr. mittelbare Diskriminierung u.a. wegen einer bestimmten Religion oder Weltanschauung] ist dahingehend auszulegen, dass nationale Vorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung angemessen ist, als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie berücksichtigt werden dürfen."

"Mit anderen Worten", so Colneric: "Die deutschen Gerichte sind durch die Richtlinie 2000/78 nicht daran gehindert, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Notwendigkeit einer konkreten Gefahr für die Schutzgüter zu beachten."

Die Entscheidung des EuGH vom 28.11.2023, C-148/22, OP ./. Commune d’Ans, habe daran nach Ansicht der ehemaligen Richterin nichts geändert. 

"Die europäischen Richterinnen und Richter gestehen hier den Mitgliedstaaten zwar einen großen Wertungsspielraum bei der Ausgestaltung der Neutralität des öffentlichen Dienstes zu" (Rn. 52), erklärt Colneric. Dieser Spielraum sei aber in Deutschland durch Art. 4 GG in der Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht eingeschränkt. Einem Neutralitätsgesetz, das eine abstrakte Gefährdung genügen lässt, stehe damit weiterhin das deutsche Verfassungsrecht entgegen.

In einer Hinsicht müsste das Bundesverfassungsgericht jedoch nach Ansicht Colneric seine Rechtsprechung revidieren:

"Zu Recht hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 27.01.2015 zum Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen dessen § 57 Abs. 4 S. 3, wonach die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen nicht dem Verhaltensgebot nach S. 1 widerspricht, als unvereinbar mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG angesehen und für nichtig erklärt. In seiner Entscheidung vom 04.01.2020 – 2 BvR 1333/17 – sah es jedoch § 45 Satz 3 des Hessischen Beamtengesetzes ["Bei der Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz 1 und 2 ist der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen."] als verfassungskonform an. Diese Vorschrift enthalte anders als die nordrhein-westfälische Regelung keine eindeutige Ausschlussklausel. Von der Prüfung, ob sich die (christliche) Bekundung im Einzelfall insbesondere mit dem Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates in Übereinstimmung bringen lässt, entbinde die Norm nicht. Meines Erachtens liegt jedoch schon in der Hervorhebung der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition als Abwägungskriterium eine Ungleichbehandlung, die mit der unionsrechtlichen Vorgabe, dass das Ziel der Neutralität tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise gegenüber allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verfolgt werden muss (vgl. Rn. 37 f. des EuGH-Urteils vom 28.11.2023), nicht vereinbar ist."

Dass es auch anders ginge, wie die Entscheidung vom höchsten europäischen Gericht zeige und dass das Bundesverfassungsgericht die positive Religionsfreiheit zu weitgehend schütze – auf Kosten der weltanschaulichen Neutralität des Staates und der negativen Religionsfreiheit der Betroffenen – kritisiert Ateş.

Bezogen auf das Kopftuchverbot führt sie aus: "Mit dem Kopftuch gehen zwei sexualisierte Rollenbilder einher: Der triebgesteuerte Mann, der sich nicht unter Kontrolle halten kann und die Frau, die sexuelle Reize hat, die sie dringend verbergen muss, um den Mann nicht zu verführen. Was dabei häufig verkannt wird, ist doch, dass das Kopftuch die Frau erst sexualisiert." Weiter erläutert sie: "Es wäre daher ein völlig falsches Signal, wenn kopftuchtragende Lehrerinnen eingestellt würden, die den kollektiven sozialen Druck traditionell-konservativer Muslime auf Mädchen ohne Kopftuch weiter verschärfen. Denn man darf die Beeinflussung durch ein solches Symbol auf die Schülerschaft nicht unterschätzen. Wir erleben schon jetzt massive Auseinandersetzungen rund um das Thema Religion an Schulen. Lehrerinnen und Lehrer sollten in diesem Konflikt keine Seite einnehmen."

Nicht nur angesichts der Entscheidung des EuGH, meint Ateş, solle das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung überdenken.